Ein Umgang mit Kritik/ Eigene Stellungnahme

Auch kritische Stimmen wurden uns in Bezug auf die Abtreibungsgeschichten zugesandt. Folgend könnt ihr unsere Antwort darauf lesen, sie verdeutlicht nochmal klare Motive, Hintergründe und Prozesse der Kampagne. Wir freuen uns über Anregungen und Kritik und gehen gern mit euch darüber in Austausch!

Im Zuge der Mobilisierung für den Schweigemarsch in Annaberg haben wir Abtreibungsgeschichten gesammelt, mit dem Ziel Abtreibungen zu entstigmatisieren und über die verschiedenen Geschichten hinweg auf Gemeinsamkeiten und strukturelle Probleme aufmerksam zu werden. Einer der Hintergründe war auch, über die Geschichten genauere Einblicke zur Versorgungslage von Schwangerschaftsabbrüchen zu bekommen. Verschiedene Personen, die abgetrieben haben, haben uns dabei ihre Geschichten als Audio-Aufnahme, in Schriftform, oder als Postkarte zukommen lassen.

Dabei kam es recht schnell zu verschiedenen Reaktionen.
Positiv stimmen uns bspw. Beratungsstellen, die die Aktion sehr begrüßten, Teile von ihr ausstellen werden und uns ihre Unterstützung weiterhin zusicherten. Wir erkennen hierin die Chance, mit dieser Kampagne mehr Menschen zu erreichen, als wir das normalerweise tun.

Aber es kam auch zu kritischen Rückmeldungen, wie euren, dafür möchten wir euch vielen Dank sagen. Das kritische Feedback hat einen intensiven internen Diskussions- und Reflexionsprozess angestoßen, dessen bisherigen Stand wir euch gerne mitteilen möchten. Aufgrund der Coronasituation, aber auch des etwas längeren Prozesses wegen kommt die Antwort nun mit einer gehörigen Zeitversetzung.

Einer der zentralen Kritikpunkte eurer Seite ist der der verwendeten Sprache innerhalb der Geschichten, eine Sprache, die geprägt ist durch den moralisierenden Diskurs über Abtreibungen und die lautstarken Stimmen der Fundis. Wir haben dieses Problem auch erkannt, hatten bereits früh darüber gesprochen, dass wir dennoch nicht lektorierend in die Geschichten eingreifen werden. Gleichzeitig haben wir uns auch immer wieder die Frage darüber gestellt, was wir machen, wenn wir problematische Geschichten bekommen, schließlich gab es auch einen Fundi-Aufruf um uns auf unsere Geschichten zu antworten, der allerdings ohne Folgen blieb. Es fällt uns schwer, darauf eine Antwort zu finden, die alle Aspekte, die wir als wichtig erachten komplett gleichberechtigt berücksichtigt.

Gleichzeitig und auch das schreibt ihr, ist es eben die Sprache der Personen, ihre Art die Geschichte zu erzählen und das halten wir für wertvoll. Es gibt nicht die eine Perspektive auf Abtreibungen, es gibt viele, das Erleben ist sehr unterschiedlich. Die Geschichten wollten so erzählt werden und diese Sprache drückt das Erleben aus. Und genau da liegt für uns die Kraft der Erzählungen: Wenn wir sie nicht nur als einzelne Erzählungen betrachten, sondern jede einzelne miteinander verbinden und gesellschaftlich kontextualisieren, dann sollte uns nicht wundern, wenn dieses Erleben innerhalb einer heteronormativen, kleinfamilienfixierten Gesellschaft mittels “kritischem” Sprachgebrauch beschrieben wird. Das wird noch deutlicher, wenn eine Abtreibungsgeschichte eben nicht von einer bekennenden ProChoiceaktivist:in erzählt wird, sondern von der ungewollt Schwangeren von nebenan. Die Geschichten bieten uns die Möglichkeit uns über die gesellschaftlichen Bedingungen auszutauschen, über die strukturellen Gegebenheiten zu diskutieren und genügend Anlässe diese verändern zu wollen.

Wir stellten uns außerdem die Frage, warum die Emotionalisierung der Erfahrung überhaupt problematisiert wurde. Ist nur das Rationale Gutes? Emanzipatorisches? Feministisches? Sind nur klare Abtreibungsgeschichten wahre Abtreibungsgeschichten? Warum können ungewollt Schwangere ihre Abtreibung nicht auch als möglichen Verlust wahrnehmen und dennoch die Entscheidung für richtig halten? Wir apellieren nicht nur an die Sichtbarmachung der Vielfalt der Geschichten, auch in den einzelnen Geschichten selbst geht es darum Vielstimmigkeiten zu erleben und Widersprüche auszuhalten – sowohl als erzählende, als auch als zuhörende Person.

Auch ihr habt beschrieben, dass das Lesen der Geschichten heftige Emotionen auslöst: Warum sind wir betroffen bei manchen Geschichten, bei anderen nicht? Warum lösen manche Beklemmungen aus und manche nicht? Was hat das mit meiner eigenen Sicht zu tun? Warum bin ich irritiert, wenn jemand häufig auf seine Abtreibung zurückblickt, warum vermute ich dort ein antifeministisches Moment? Wir möchten mit diesen Geschichten die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema (nochmals) anregen, um u.A. Fragen der praktischen Solidarität neu aufzuwerfen.

Entgegen euer Wahrnehmung, sind wir der Überzeugung, dass es gesamtgesellschaftlich immernoch ein Nicht-Darüber-Sprechen über Abtreibung gibt. Ein gehemmtes Schweigen unterfüttert mit ressentimentgeladenen Befürchtungen die eigene Geschichte zu erzählen. Deswegen haben wir unsentschlossen, die Kampagne weiter zu führen, vor allem weil wir sie als Medium der politischen Mobilisierung anerkennen.

Schließlich möchten wir weiterhin diese Plattform bieten, um über die eigene Abtreibungerfahrung ohne Angst vor Ausgrenzung zu sprechen. Wir finden es wichtig, dass es einen solchen Ort gibt, an dem Personen über Abtreibungen berichten können, denn diese Orte gibt es zu wenig. Über die eigenen Abtreibungserfahrungen zu sprechen ist bis heute mit Stigmatisierung verbunden, auch weil häufig vom (z.B. feministischen oder eben fundamentalistischen) Umfeld Normvorstellungen darüber existieren, wie darüber gesprochen werden kann und soll. Vielfältige Geschichten können dagegen den Möglichkeitsraum des Darüber-Sprechens erweitern und stellen vor allem eine Gegenöffentlichkeit zu den leicht auffindbaren Fundi-Geschichten dar. Gleichzeitig erfuhren wir das Mitteilen der eigenen Abtreibungserfahrung auch innerhalb der Gruppe als einen empowernden Akt und hoffen, es ging allen weiteren Autor:innen ähnlich.
In einer Gesellschaft, in der die Informationsfreiheit für reproduktive Rechte derart eingeschränkt ist (#wegmit§219a), soll die Kampagne außerdem eine Plattform sein, auf der Personen sich die Geschichten durchlesen, die vielleicht gerade vor einer Entscheidung stehen, die vielleicht garnicht genau wissen, was auf sie zukommt, die vielleicht nicht die große Schwester fragen können oder mehr als nur harte Zahlen und medizinische Fakten ergooglen wolen. Sie soll informieren, aufklären und auffangen.
Die Plattform soll verdeutlichen, dass die Entscheidung für eine Abtreibung voll in Ordnung ist, sich dagegen zu entscheiden aber auch. ProChoice.

Dennoch glauben wir, dass wir unsere Ziele nicht einfach in dem jetzigen Format erreichen können. Das Sammeln einzelner Geschichten ist als solches noch kein politisch-emanzipatorischer Akt. Es muss auch darum gehen die Verbindungen der einzelnen Geschichten sichtbar zu machen und die gesellschaftliche Einbindung der Geschichten aufzuzeigen, zu thematisieren und zu analysieren. Daher werden wir beginnen, zusätzliche Texte zu verfassen, um auf die Gemeinsamkeiten, aber auch auf Leerstellen hinzuweisen (so finden wir es beispielsweise spannend, dass Spätabtreibendungen nie thematisiert wurden). Diese Texte sollen so ein Ort der politischen Reflexion der individuellen Erlebnisse werden und gewissermaßen als Bindeglied fungieren zwischen individuellem Erleben und politischer Praxis.

Gern möchten wir euch deshalb zur Zusammenarbeit, weiteren kritischen Kommentaren und Beiträgen animieren, teilt eure Geschichten, lasst uns mit Stigma und mit Schuld brechen.

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